Sarah Nägele - Industrie 4.0 – Chance oder Schrecken für Schwellenländer?
Im Internet der Dinge soll alles mit allem kommunizieren, möglichst ohne Menschen. Industrie 4.0 steht für die Vernetzung von Geräten, Maschinen und Industrieanlagen.
Die Vision der vollautomatisierten Produktion führt in den reichen Ländern bei den einen zu Euphorie, bei den anderen zu tiefen Sorgenfalten. Aber was bedeutet sie für die Schwellenländer? Zuerst einmal eine Herausforderung. Denn wenn in einer weitgehend automatisierten Industrie 4.0 tatsächlich immer weniger menschliche Arbeitskraft benötigt wird, verliert auch der entscheidende Wettbewerbsvorteil der Schwellenländer an Bedeutung: die niedrigen Lohnkosten.
Sozialdumping als Erfolgsmodell am Ende?
Die Textilindustrie steht exemplarisch für die immer noch arbeitsintensive Produktion, die in den letzten Jahrzehnten praktisch vollständig in Billiglohnländer im asiatischen Raum ausgelagert wurde. Dass neben dem niedrigen Lohn zusätzlich unmenschliche Arbeitsbedingungen die Norm sind, wird meistens ignoriert und rückt nur bei großen Unglücken wie dem Zusammensturz mehrerer Fabriken in Bangladesch ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Um dem negativen Image von Bangladesch zu entkommen, wurde Myanmar zum neuen Mekka der Textilindustrie, obwohl der Mindestlohn dort mit 2,48 USD pro Tag (!) nur wenig höher ist als in Bangladesch.
Die geringen Löhne sowie niedrige Sozial- und Umweltstandards werden allerdings von westlichen KonsumentInnen zunehmend als Problem angesehen. Viele sind bereit, etwas mehr zu zahlen, wenn dafür ethisch, ökologisch und im Idealfall regional produziert wird. Unternehmen stehen nun vor der Herausforderung, günstig und gleichzeitig nachhaltig und gerecht zu produzieren.
Industrie 4.0 als Chance
Und hier kommt wieder die Industrie 4.0 ins Spiel. Das vierte industrielle Zeitalter verspricht erhebliche Senkung der Produktionskosten. Doch wenn durch Automatisierung der Anteil der Lohnkosten massiv sinkt, können die dann weitgehend menschenleeren Fabriken gleich im Westen angesiedelt und damit auch die Transportkosten eingespart werden.
Dennoch kann das neue Industriezeitalter langfristig gesehen eine Chance für Schwellenländer sein. Die deutsche Akademie der Wissenschaften acatech untersuchte die Chancen von Industrie 4.0 für Schwellenländer am Beispiel Indien. Besonders im Bereich der Stadtentwicklung waren die Ergebnisse interessant. Die neuen Fabriken nehmen weniger Raum ein, stoßen weniger Schadstoffe aus und verbrauchen weniger Ressourcen. Die industrielle Produktion kann deshalb in Stadtzentren und Wohngebiete integriert werden. Kürzere Arbeits- und Transportwege entlasten den städtischen Verkehr, gleichzeitig wird die wirtschaftliche Entwicklung gefördert.
Zur Umsetzung braucht es allerdings funktionierende Logistiksysteme und eine verlässliche Energieversorgung. Zudem müsse der Aus- und Weiterbildung besondere Aufmerksamkeit zukommen. Denn von Arbeitsplätzen, die in der Industrie 4.0 entstehen, profitieren vor allem gut ausgebildete Menschen. Das kapitalistische Interesse an der modernen Sklaverei – wie wir sie heute in Sweatshops auf der ganzen Welt sehen – könnte geringer werden. Es gibt Anlass zur Hoffnung, dass auch in den Schwellenländern mehr in Qualifizierung und Lebensqualität der ArbeiterInnen investiert wird.
Gemeinsame Verantwortung für eine bessere Welt
Es fällt nicht schwer, diesen Hoffnungen düstere Prognosen entgegenzusetzen, doch die Jugend zeigt sich optimistisch. Das Marktforschungsinstitut Future Foundation befragte tausend Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren aus China, Australien, Brasilien, Deutschland, Frankreich, Indien, Südafrika, den USA und Großbritannien. Alle waren sich über die Bedeutung von Technologie für ihre Zukunft einig, allerdings schätzten 74 % in Indien und 71 % in China Fächer in Verbindung mit Computerwissenschaften gar als Schlüsselelemente ihrer Bildung ein. Auch was die bereits vorhandenen technologischen Fähigkeiten betrifft, sind Jugendliche aus Schwellenländern optimistischer.
Für Myanmar hat die Textilindustrie ehrgeizige Pläne vorgelegt. Bis 2024 soll das Siegel „Made in Myanmar“ für ethische und nachhaltige Produktion stehen. Ein schönes Ziel, das bisher allerdings „freiwillig“ ist. Das reicht nicht. Nur wenn sich die Industrienationen dazu verpflichten, sozial und ethisch zu produzieren, kann sich die Situation der Schwellenländer nachhaltig verbessern.
Sarah Nägele ist freie Journalistin.